Kunibert Schäfer
Prof. em. für Dirigieren und Orgelsachverständiger

Tagebuchblätter zu 24 Probenbesuchen

Von den Kirchenmusikdirektoren der kath. Diözesen Deutschlands wurden mir 24 „Vorzeigekirchenchöre“ für einen Probenbesuch genannt. Nachfolgend findet ihr Texte, welche ich jeweils, noch ganz unter dem Eindruck der besuchten Probe, kurz danach niedergeschrieben habe. Gemeinsam sind die 24 Chöre, samt ihrer Chorleiter/innen strahlender Beleg für die große Vielfalt und Qualität unter den Deutschen Kirchenchören. Sie lassen uns, trotz manch alltäglicher Probleme immer wieder hoffnungsfroh in die Zukunft schauen. Gemeinsam mit ihren Chorleitern und Chorleiterinnen waren sie für mich alle einzigartig und ungemein bereichernd. Mögen die Texte Hoffnung und Motivation sein begeistert Chöre zu leiten bzw. auch begeistert in Chören zu singen.

1. ……und all dies ist kostenlos! 

Es ist kurz vor 20.00 Uhr. Ich öffne die Tür zum Probenraum. Mein Blick fällt in einen großen, hell beleuchteten, mit wunderschönen modernen Gemälden ausgestatteten Saal. Gleich bei der Eingangstür befindet sich ein Tisch mit einer Dose gespitzter Bleistifte. Der Saal ist angenehm temperiert. Die Stühle sind großzügig in unterschiedlichsten Gruppen und mehreren Reihen angeordnet. Auf jedem Stuhl befindet sich eine Mappe mit hochwertigem, neu erworbenem Notenmaterial. Eine Messe von Joseph Jongen op. 130 und das bekannte „Gloria“ von John Rutter werden geprobt. Im Zentrum dieser großen Stuhlkreise zieht ein schwarzer Flügel meinen Blick auf sich. Direkt daneben am Pult beginnt der Chorleiter mit einem freundlichen Gruß die Probe und überlässt anschließend einer ebenso freundlich lächelnden Stimmbildnerin das obligatorische Einsingen. Frei im Raum verteilt kann sich jeder bei Körperübungen lockern, mit Atemübungen entspannen und an ersten Einsingübungen, untermauert mit treffenden stimmbildnerischen Ansagen, probieren. Die sich daran anschließende Chorprobe wird vom hochqualifizierten A-Kirchenmusiker mit „Master“ im Fach Chorleitung kompetent geleitet. Immer freundlich in seinen Ansagen hilft er mit seinem trefflichen Klavierspiel über Unsicherheiten hinweg, singt schwierige Passagen spontan helfend den noch unsicheren Stimmen vor, lässt fein dosiert immer wieder Erklärungen zur Stimmbildung einfließen oder hilft, manchmal fast nebenbei, mit dem unterstützenden Spiel von Grundtönen am Klavier eine bessere Intonation zu finden. Wenn der Chor etwas müde wird, setzt er sofort seine eigene, dirigentische Energie dagegen. Er übersetzt notfalls den Text, motiviert mit Ansagen zum Inhalt und informiert über die Entstehung des Werkes oder fordert die Chorsänger auf besser aufeinander zu hören und eine Einheit im Klang und damit eine wirkliche Chorgemeinschaft zu werden. Nach einer 120- minütigen Probe mit einer kürzeren Pause, bei welcher kostenfreie Getränke verteilt wurden, beendet der Chorleiter die Probe immer noch freundlich lächelnd und wünscht allen einen guten Nachhauseweg. Mein Vater, selbst langjähriger Chorleiter im Saarland, warb häufig auch mit einer solchen Probenbeschreibung um neue Mitglieder und endete dann regelmäßig mit dem Satz „On dat alles gefft et em Koa voa nix! Komm doch äfach mol voabei“ 

 

2. Chorleiter oder Dirigent 

Ein „Oratorienchor“! Welch große Energie ist hier spürbar. Man betritt den Probenraum: Es herrscht ein immenses Stimmengewirr, es ist laut, Menschen unterschiedlichsten Alters stehen um dich herum, sprechen dich vielleicht an und kurze Zeit später bist du ein Teil von ihnen und integriert. Ich selbst durfte über lange Jahre einen großen Laienchor leiten und war immer wieder überrascht, wie sehr mich Sängerinnen und Sänger in ihrer Begeisterung und Energie mitnahmen und regelrecht ansteckten. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass aus der Lautheit des Anfangs auf Zeichen des Dirigenten plötzlich eine spannungsvolle Stille wird. Nun ist es Zeit gemeinsam ruhig zu werden, das Gleiche zu tun! Alle zusammen, keiner mehr allein, die Sorgen und der Stress des Alltags sind (hoffentlich) vorbei. Es war im eher kleinen Probenraum eine spannende, stringente Probe der Chorteile des „Requiems“ von Antonin Dvořák. Zwei Wochen vor dem großen Konzert wurden erstmals ALLE Chorteile geprobt. Trotzdem zeichnete fast jede Ansage des Dirigenten aus, dass zuerst immer und immer wieder etwas Positives formuliert wurde. Erst danach hatten dezent geäußerte Kritik und realisierbare Verbesserungsvorschläge ihren Platz. Eine solche Probenmethodik ist bei einem großen Chor, in welchem Jung und Alt mit häufig unterschiedlichsten sängerischen Fähigkeiten nebeneinander musizieren, sinnvoll und erstrebenswert. Der Dirigent hatte mit seinen Ansagen und Bemerkungen die eher schüchternen und zurückhaltenden Sängerinnen und Sänger im Blick. Er erreichte dadurch aber auch bei den stimmlich erfahrenen Chormitgliedern großes Vertrauen und Wertschätzung als Mensch, und nicht bloß als guter Dirigent. Mir stellte sich hier wieder mal die Frage: Was sind denn die Aufgaben des Chorleitens und welch kleiner Teil davon ist im Unterschied dazu doch die Arbeit des Dirigierens? Übrigens, nachdem eine schwierige Stelle wiederholt, nicht funktionierte, gab der Chorleiter motivierend und zuversichtlich lächelnd den Chorsängern zu bedenken „Keine Angst, habt Vertrauen und Zuversicht, Gott ist mit uns“. Na dann, auch von mir aus, ALLES GUTE für das Konzert. 

 

3. Der Alleinunterhalter 

Ich glaubte schon, er ist ausgestorben, aber nein, da war er wieder: Der Chorleiter als Alleinunterhalter, welcher in allen Situationen Rat weiß, der alle Chorleiterischen  Fähigkeiten in sich vereint und motivierend, fordernd oder auch besänftigend in sämtlichen  möglichen oder auch unmöglichen Bereichen des Chorwesens unterwegs ist, nach dem Motto „VIEL HILFT VIEL“. Ja, dieser Chorleiter motivierte durch schnelles, lautes Sprechen. Er unterstützte mit gleichzeitigem eigenen Singen den 1. Sopran oder auch, wenn es nötig war, den 2. Alt. Er streute immer wieder feine Ansagen bezüglich einer perfekten Stimmbildung ein. Sein besonderes Steckenpferd waren hierbei abgehackte, isoliert geübte, sprachlich beliebte Explosionslaute wie Akkk/nusss Teee/hi, PPPa/zzzem, pppe/cccca/ttta mun/ti. Das explizierte Üben dieser für ihn wichtigen „sprachlichen Herausforderungen“ führte immer wieder zu großer Begeisterung und Freude in der Chorgemeinschaft. Der Dirigent hörte natürlich auch alle Unsauberkeiten. Er reagierte dann sofort und trieb diese Unart den Sängerinnen und Sängern durch häufiges, kräftiges Tonrepetieren auf dem Klavier schnellstmöglich wieder aus. Er motivierte mit der eigenen Sprache, indem er bei gut gesungenen Passagen mit mindestens viermaligem kräftigem „guad, guad, guad, guad“ bzw. bei weniger gelungenen Stellen „nein, nein, nein, nein“ seine Meinung durch den Raum schmetterte. Er dirigierte, seinem großen Gestaltungswillen entsprechend, dem Chor zugewandt, etwas gebückt mit raumgreifenden Armbewegungen zuckend, reißend, stöhnend und immer laut atmend. Dieses laute Einatmen half den Chorsängern auch bei jedem Einsatz mehr oder weniger schnell ins Werk hinein. Natürlich war die zu probende Messvertonung auch eine Eigenkomposition des Dirigenten, die anderen vier zu probenden Motetten aus dem NGL-Bereich allesamt eigene Arrangements. Das Klavier blieb logischerweise auch nicht das einzig verwendete Instrument. Es wurde bei den NGLs zielgerichtet zum passenden Instrument Gitarre gegriffen. Für die Verjüngung des Chores sorgten die eigenen Kinder ...und, und, und. Mir stellt sich hier fast erschreckt die Frage: Was macht der Chor eigentlich, wenn es diesen engagierten „Alleinunterhalter“ nicht mehr gibt? 

 

4. Erntedank 

„Das sind die Früchte meiner nun schon fast 30 Jahre andauernden Arbeit“. So antwortete mir der erfahrene Chorleiter stolz, als ich ihm nach der abendlichen Probe zu seiner sehr gelungenen Chorarbeit gratulierte. Wieder einmal durfte ich einer Probe beiwohnen, in welcher der Chorleiter seine Aufgaben hervorragend meisterte: Er sang wunderbar, fast solistisch Tenor, spielte virtuos und trotzdem äußerst musikantisch Klavier, erklärte Musik unterschiedlichster Epochen, oder stellte oft und manches Mal fast spitzbübisch Fragen an seine Chorsänger/innen. Gradlinig mit viel Selbstbewusstsein und methodischer Erfahrung scheute er dabei nicht vor schwierigen Themen des Glaubens zurück und fragte einfach mal nach: „Wie war das denn mit der schwangeren Maria ... wann sagte sie das zu wem .... und wie ging es ihr eigentlich dabei?“ Er arbeitete dann mit diesen hilfreichen Bildern an der Interpretation seines selbst komponierten „Magnificat“. Chormitglieder bestätigten mir im Anschluss an die Probe, dass ihnen als Laien dieses bildhafte Arbeiten gerade bei der Interpretation von Kirchenmusik sehr häufig weiterhelfe. Da der Chorleiter zudem noch über viele weitere Fähigkeiten verfüge, wäre es im Chor durchaus so, dass für jeden immer etwas Passendes und durchaus Bereicherndes dabei sei. Die Frucht dieser jahrzehntelangen Arbeit sind dann in diesem Fall 80 engagierte Chormitglieder, welche ihre eigenen Fähigkeiten über das Singen hinaus auf unterschiedlichste Art in die Chorgemeinschaft einbringen. Es gibt deshalb seit Jahren Vorsitzende, Stimmsprecher, Verantwortliche für Ton, Bild, Text, Finanzen, Feiern und Ausflüge. Ein großer Chor verursacht sicher mehr Kosten als ein kleiner. Er macht aber vieles auch viel leichter. Es schwärmen hier immerhin 80 Leute aus um junge Nachwuchssänger/innen zu finden. Es gibt auch für fast alle Probleme irgendjemanden, der doch noch weiterhelfen kann. Natürlich braucht ein großer Chor auch immer wieder einmal ein großes Orchester. Wenn man eines braucht, dann muss man eines schaffen. So geschehen. Es wurde ein Orchester gegründet, welches wöchentlich -und man beachte- ohne Bezahlung vor der Chorprobe, bzw. gleichzeitig mit dem Chor, am Abend probt. Die 25 jungen und älteren Musiker sind auch Früchte dieser jahrelangen gewissenhaften Aufbauarbeit ihres Kirchenmusikers. Erntedank nach fast 30 Jahren. Meine große Bewunderung. 

 

5. Non confundar 

Heute passt alles zusammen! Das Werk - Anton Bruckners „Te Deum“ -, der Raum - eine große Hallenkirche - mit vielen Nachhallsekunden und der Chor - eine Chorgemeinschaft aus Sängerinnen und Sängern mehreren Pfarreien unterschiedlichsten Alters. Kurz vor der konzertanten Aufführung des Werkes entscheidet die Chorleiterin spontan die letzte Probe vor der Generalprobe und dem Konzert direkt in der Kirche abzuhalten. Somit können die Sänger/innen bereits ein erstes Gefühl für die Akustik in der Kirche bekommen und zudem einen guten Platz mit uneingeschränkter Sicht suchen. Wenn die Nachbarin dann noch passt, (bei Männern ist dieser Aspekt meist weniger wichtig), ist ein Grundstock für das Gelingen des sonntäglichen Konzertes schon gelegt. Bruckner in einer akustisch „passenden“ Kirche ist unbeschreiblich schön. Die Klänge stehen im Raum, scheinen unendlich, die Chorsänger müssen natürlich ab und an auch mal atmen. Naja, sollen sie ruhig, es entstehen keinerlei Klangbrüche, das Band an Tönen scheint unendlich. Auch noch so gut gemeinte oder wichtige Ansagen bezüglich Absprachen oder den Vokalausgleich betreffend, scheinen das „Te Deum“ im Kern nicht wirklich anzurühren. Es bleibt ein überzeugtes Glaubensbekenntnis und wird meines Erachtens fast noch intensiver, wenn man auch die Mühen und Anstrengungen der Chorsänger/innen um höchste Töne hört, bzw. sogar manchmal auch sieht. Heute glaube ich es ihnen: „Non confundar in aeternum“. 

 

6. Die gute Intonation 

Ein Neubaugebiet ohne Flair. Plattenbauten der sechziger Jahre, soweit das Auge reicht. Auch Kirche und Pfarrheim machen da keine Ausnahme. Sie wirken kalt, spröde und steril. Aus dem Pfarrsaal hört man einige feine jugendliche Stimmen. Es sind drei Mädchen aus dem Jugendchor welche heute zum ersten Mal im „großen Chor“ dabei sein dürfen. Der Chorleiter bereitet sie schon seit Wochen sorgsam auf diesen Übergang vor. Die restlichen Chorsänger begrüßen mich herzlich und scheinen sich sehr auf den heutigen Abend zu freuen. Ach ja, den Plattenbau habe ich nun schon fast vergessen. Nach dem obligatorischen Einsingen mit wenig Körper-, dafür aber mit vielen Atem- und Resonanzübungen, bin ich doch sehr überrascht. Der große Chor (50 Mitglieder) singt äußerst homogen, aufmerksam aufeinander hörend und zudem intonationsrein. Ich dachte zuerst, dass dies evtl. mit der Komposition (Bruckner Messe in F-Dur) zusammenhängt, aber weit gefehlt. Die Intonation blieb bis zum Ende der Probe vorbildhaft. Was waren die Gründe? Weshalb gelingt dies hier auch bei einem großen Ensemble vorbildhaft? Die Chormitglieder meinten auf meine spätere Nachfrage hin, dass es letztlich die kontinuierliche, fundierte, in allen Situationen bescheidene, aber immer engagierte Arbeit ihres Chorleiters sei, die dies ermögliche. Das feine Aufeinanderhören, der häufige Hinweis auf intonatorische Klippen, die allgemein entspannte Art des Singens, welche über Jahre hin geübt wurde, die zurückhaltende Art des Dirigierens sowie die feinen, nie verletzenden Worte (auch bei notwendiger Kritik) des Chorleiters seien sicher noch weitere Indizien für die gute Intonation im Chor. Nach der unaufgeregten Probe blieb man wie immer bei einem gemütlichen Nachklang zusammen. Mir selbst wird auf dem Nachhauseweg immer klarer und es erscheint mir nun doch immer logischer: Für eine gemeinsam gute INTONATION ist eine gute GEMEINSCHAFT einfach unerlässlich. 

 

7. Primus inter Pares 

War dies nun ein „Vorzeigechor“ oder anders gefragt, ist diese Arbeit vorbildhaft? Weshalb schickt mich ein Kirchenmusikdirektor in dieses kleine, abgelegene Dorf? Laut Schematismus leben hier 174 Katholiken, wovon 25 wöchentlich zu den Chorproben des Kirchenchores im Pfarrsaal erscheinen. Toll! Jede/r siebte Einwohner/in singt also hier im Chor. Ich mach mich also auf die Suche nach dem Besonderen. Der heutige Chorleiter wurde vor wenigen Jahren aus dem Chor heraus dazu bestimmt (oder gedrängt?), diese besondere Aufgabe zu übernehmen. Nach dem Motto: „Mach du das ruhig, Du kannst Orgel- und Klavierspielen. Singen tun wir. Du hast Zeit, kommst mit dem Pfarrer gut zurecht und wohnst zudem am Ort. Keine Angst, es gibt ja auch noch Kurse in der Diözese, da kannst du dich dann noch weiterbilden“. So oder ähnlich ist die Chorleiterberufung damals abgelaufen und gefunden hat man einen sehr sympathischen, zurückhaltenden jungen Mann, dessen musikalische Fähigkeiten beachtlich sind. Er ist nun ihr „Primus inter Pares“, der immer wieder einmal seinen Chor fragt: „Passt das so?“, bzw. „Welche Stelle möchtet ihr nochmals singen?“ Er ist ein Chorleiter, der gemeinsam mit den Sängerinnen und Sängern versucht den lateinischen Text zu übersetzen und ähnlich mit Ausspracheproblemen umgeht. Es ist ein Chor, der Probleme der Interpretation oder auch stimmliche Herausforderungen gemeinsam löst. Und es funktioniert. Jeder darf etwas anmerken, es kann auch mal gelacht werden, wenn eine besonders schwierige Stelle nicht sofort klappt. Niemand fühlt sich dadurch ausgegrenzt oder bloßgestellt. Übrigens verlegte man das Ausfüllen meiner Fragebögen kurzerhand in das nahegelegene Lokal im Feuerwehrhaus. Natürlich waren auch hier beim Ausklang ALLE noch mit dabei und immer noch in bester Stimmung. Frei nach dem Motto: „Wo man singt, da laß’ dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ (Johann Gottfried Seume).

 

Johann Wolfgang von Goethe schrieb zur Thematik „Primus inter Pares“ 

Gleich zu sein unter Gleichen,

das läßt sich schwer erreichen:

Du müßtest ohne verdrießen,

wie der Schlechteste zu sein dich entschließen. 

 

8. WO 

Bachs Weihnachtsoratorium ist auch im 21. Jahrhundert Kirchenmusik mit ungebremster Anziehungskraft. Bei meinem heutigen Probenbesuch erlebe ich einen sehr lebendigen und in höchstem Maße „offenen“ Chor. Das WO ist angesagt und es kommen zusätzlich zum gut dimensionierten Kirchenchor (40 Sängerinnen und Sänger) noch 30 hinzu. „Das sind unsere Projektsänger“, wird mir fast beiläufig von einer älteren Chorsängerin erklärt. „Bei Werken wie einem WO sind sie immer dabei“. Sie seien über die Jahre hinweg schon fester Bestandteil des Chores. Sie sind gut integriert und man kennt sich. Sie kommen immer dann, wenn es attraktiv ist (siehe WO) oder wenn sie unbedingt gebraucht werden, dann aber eher ungern. Wenn ein Chor diese Offenheit in seinem Umgang miteinander lebt und hörbar Gewinn daraus zieht, ist dies sicher für alle von Vorteil. Es scheint hier in diesem Chor keine üblichen Grenzen zu geben. Viele erfahrene Chorsänger (Ü70) singen gleichberechtigt neben Schülern und Studenten. Professionelle Sänger agieren neben absoluten Laien und es ist spürbar, wie das alles zusammenwächst. Konfessionsunterschiede, früher im Chor eher trennend empfunden, werden schon seit Jahren als Bereicherung gesehen. Es wird von der Chorleiterin Werbung für den Abendgottesdienst des Evangelischen Chores am Reformationstag gemacht. Auch scheint es fast so, dass jeder hier etwas zu verkünden hat. Chorsänger stellen vor versammeltem Auditorium Fragen an die Chorleiterin. Treten Unklarheiten bezüglich Aussprache oder Verzierung auf, wird auch hier schnell mal nachgefragt. Probentechnisches wird vom Chorvorstand immer wieder angesprochen und für alle geklärt. Mir stellt sich die Frage: „Weshalb tun sich Sängerinnen und Sänger dies an? Weshalb opfern sie ihren Dienstagabend?“ Die großen Kunstwerke wie ein Weihnachtsoratorium von J.S. Bach sind die Antwort. Sie schaffen es auch heute noch ohne große Werbeaktionen Menschen zum sinnvollen, gemeinsamen Musizieren zusammenzubringen. Wir, die um den Chornachwuchs bemühten Leiter/innen, sollten diese Chance erkennen. Lasst uns doch beschließen, ab heute nur mehr gute, oder richtiger noch, beste Kirchenmusik zu machen. Es wird sich herumsprechen! 

 

9. Ehrfürchtig 

Heute geht es zu einem bekannten Marienwallfahrtsort. Geprobt wird wie immer in der schönen Kirche auf der Orgelempore. Der Organist, ein Regionalkantor mit Masterabschluss in Fach Kirchenmusik, erwartet mich bereits auf der Empore. Überrascht bin ich, dass zwar viele Podeste eine ideale Choraufstellung ermöglichen, dass es aber an Stühlen zum Sitzen fehlt. Auf meine Nachfrage hin erklärt mir der Chorleiter, dass es sich im Stehen doch besser singen lässt und die Chorsänger ihre Tradition, auf der Empore zu proben, sowieso nicht aufgeben wollten. Also wird nun 90 Minuten auf der Empore im Stehen geprobt. Im Winter weiche man wegen der Kälte manchmal aus. Prinzipiell proben aber alle lieber in ihrer schönen Wallfahrtskirche. Interessant war für mich auch die Anmerkung des Chorleiters bezüglich der zu früheren Zeiten obligatorischen Geburtstagsständchen. Sie fanden bei dem Chor mit 60 Mitgliedern eigentlich wöchentlich statt. Der Chorleiter meinte dazu: „Die habe ich, als ich die Stelle angetreten habe, gleich mal auf einen gemeinsamen Jahrestermin gelegt. Das ging mir dann doch einfach zu weit. Da ist mir der Raum einfach zu ehrfürchtig“. Als die Probe begann spürte ich, was er meint mit ehrfürchtig. Es wurde für eine normale Chorprobe eher wenig untereinander gesprochen. Wenn überhaupt dann leise. Der Organist, mittig hinter Spieltisch und Rückpositiv stehend, begrüßte die Chorsänger kurz und begann mit seiner Arbeit. Er streute beim Einsingen immer wieder zur gesanglichen Stütze liegende Orgeltöne bei. Diese lang ausgehaltenen Orgeltöne halfen dem Chor sicht- und hörbar zu einem gleichbleibenden, aufrichtenden Atemfluss. Als der Chor dann das „Sanctus“ aus der „Messe Solennelle“ von Jean Langlais anstimmte und der Sopran nach wenigen Takten zum c3 aufstieg, war mir endgültig klar, weshalb die Chorsänger hier proben wollen. Der Raum gibt all ihrer Musik dieses Authentische, Große und Ehrfürchtige. Ja, sie tun hier alle etwas Besonderes, das begeistert und trägt. Ein tolles Probenerlebnis…..ich war begeistert.

 

Übrigens verkündete der Chorleiter zum Ende der Probe noch die in der kommenden Woche anstehenden Auftrittstermine. Das sei Allerheiligen, Allerseelen und der folgende Sonntag, jeweils mit einer einstündigen Einsingprobe davor. Gemeinsam, mit der wöchentlichen neunzigminütigen Chorprobe, sind dies insgesamt 7,5 Stunden Choraktivität für jede/n Einzelne/n in der Woche. Multipliziert man diesen Wert mit der Anzahl der 60 Chorsänger, ergeben sich somit 450 Einsatzstunden. Wollte man diese Stunden dann noch mit dem in Deutschland üblichen Kostenansatz für den Mindestlohn von 12,00 € abgelten, käme man auf ein wöchentliches Chorengagement von 5.400 €.  VERGELT`S GOTT. 

 

10. Zukunftsmodell

Es könnte ein Zukunftsmodell auch für andere Chöre sein. Wie in vielen deutschen Pfarrgemeinden war in zwei kleinen Nachbarpfarreien für Kirchenmusik und im Speziellen für einen qualifizierten Chorleiter kein, oder besser gesagt, nur wenig Geld vorhanden. Man musste sich also notgedrungen mit „Hobbychorleitern“ zufriedengeben. Die Suche nach geeigneten Sängerinnen und Sängern war in dieser Konstellation mit zwei zwar bemühten, jedoch unerfahrenen Chorleitern ohne qualifiziertes Studium, über Jahre hinweg erfolglos und wäre es sicher auch geblieben, hätte man nicht entsprechend reagiert. Die beiden Kirchenchöre schlossen sich zusammen, legten das Geld, welches sie bisher für die zwei ausgegeben hatten, zusammen und leisteten sich dafür EINEN Chorleiter mit Masterabschluss im Fach Kirchenmusik. Es dauerte nicht lange und siehe da, es funktionierte. Die neugewonnene Qualität der Musik sprach sich im Ort schnell herum und viele wollten dabei sein, bei diesem außergewöhnlichen Chor, in welchem es endlich wieder Freude macht zu singen. Es wuchs ein Chor heran, welcher nun auch wieder regelmäßig Highlights der Kirchenmusik aufführen konnte. Ja es funktioniert wirklich. Ich durfte mich von der Qualität des neu geschaffenen Chores überzeugen. Sie haben einen Chorleiter gefunden, der neben dem schon beschriebenen Master in Kirchenmusik noch ein Orgelstudium (aktuell unterrichtet er im Lehrauftrag für Improvisation an einer Hochschule), ein Klavierstudium (er arbeitete lange Jahre als Korrepetitor am Theater) und ein Gesangsstudium absolviert hat. Mit dieser fundierten Ausbildung kann er den Sängerinnen und Sängern auf sehr vielfältige Weise die Schönheit und Tiefe der Kirchenmusik nahebringen. Für solche verantwortungsvollen Aufgaben braucht es die bestausgebildeten Musiker. Ich bin davon überzeugt, dass Qualität in der (Chor)-Leitung hier immer der Schlüssel zum Erfolg ist. 

 

11. Im Studium gelernt 

Nein, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich fahre quer durch Deutschland, fast siebenhundert Kilometer. Sicherheitshalber, damit ich auch pünktlich bin, auf zwei Tage verteilt. Vor Ort angekommen, scheint mir die Sprache der Chorsänger und Chorsängerinnen viel artikulierter. Klarer und heller ist sie allemal als ich sie aus meiner Wahlheimat Bayern kenne. Zur Chorprobe sind viele großgewachsene schlanke Frauen gekommen. Auch die stattlichen Männer, oder sollte ich lieber Herren sagen, kommen mir körperlich größer vor als Chorsänger meiner Regensburger Chöre. Auf jeden Fall hatten sie schneller eine Antwort auf meine Fragen parat als Chorsänger aus dem mir vertrauten süddeutschen Raum. Nun ja, nach längeren Diskussionen, wie die letzten Proben verlaufen sind, wann der nächste wichtige Auftritt ansteht und welche verschiedenste Aufstellungsvarianten für das Singen auf der Empore erprobt werden sollten, geht es doch noch los. Wie gesagt, ich hätte es nicht für möglich gehalten: Es klingt wie zuhause. Ich fühle mich heimisch, fast geborgen. Alle Problemstellen sind mir bekannt und ich könnte sofort Hilfestellungen geben. Die Vertrautheit resultiert aus der Tatsache, dass die „Messe zu Ehren der heiligen Cäcilia“ (op. 32 Nr.3) von Josef Venantius Wöss, dem Österreichischen Komponisten (1863-1943), einem engagierten Streiter für den mit Regensburg verbundenen Cäcilianismus, geprobt wird. Es klingt nun nicht mehr hell und artikuliert, scharf und obertonreich. Der Klang des Chores ist grundtönig, weich und angenehm, empfindsam. Natürlich durfte auch der bekannte Wöss-Satz „Ein Danklied sei dem Herrn“ nicht fehlen. Die Probe wurde dann noch mit dem „Locus iste“ von Anton Bruckner würdig beendet. Anschließend hatte ich Gelegenheit den Chorleiter zu fragen, weshalb er diese Literatur auch hier, weit weg vom „Cäcilianismus“, mit seinem Chor singe. Er meinte ganz lapidar: „Wissen Sie, das hab´ ich alles in meinem Studium an der Kirchenmusikschule in Aachen gelernt. Ich habe vieles von dort mitgenommen, was mich hier und heute immer noch bereichert und freut. Unsere Kirchenmusik ist ja Gott sei Dank grenzenlos und mit ihr sind wir doch überall zuhause.“ Nach diesen Sätzen spürte ich, wie seit langem nicht mehr, die große Verantwortung, welche ich, sicher auch gemeinsam mit meinen dozierenden Kollegen, als Lehrende einer traditionsreichen Ausbildungsstätte für die Pflege und Weitergabe der kunstvollen MUSICA DIVINA habe.  

 

12. Kirche und Welt 

Als ich eine halbe Stunde vor Probenbeginn vor Ort erscheine, sind bereits fünf Chormitglieder bei der Arbeit. Sie stellen ca. 50 Stühle in einem großen Halbrund auf, öffnen die Fenster, um für die Probe genügend frische Luft zu haben, legen die Notenmappen bereit, schieben auf einem Servierwagen Wasserkästen sowie einen Radler- und ein Bierkasten nach vorne in den Bereich, wo später der Chor sitzt. Ein E-Piano, samt zweier Lautsprecher mit Ständer, wird aufgebaut. Angeschlossen wird zudem ein MacBook für die später notwendigen Musikeinspielungen. Mich fragt jemand vom Chor, ob ich etwas trinken möchte und einige Minuten später wird mir eine Flasche Wasser samt Glas serviert. Ich bin etwas irritiert und frage mich in diesem Moment: „Bin ich hier richtig, ist das wirklich ein Kirchenchor?“ Alles ist hier so lebendig, so freundlich, so engagiert. Alles ist auf viele Schultern verteilt. Jeder bringt sich mit seinen Fähigkeiten ein. Als der Chorleiter erscheint und wenig später die Probe mit einer Liedkantate über „Es kommt ein Schiff geladen“ beginnt, bin ich mir nun doch sicher. ES IST EIN KIRCHENCHOR. Die Kantate stammt übrigens, samt sehr professionell gemachten MP3 Einspielungen, vom Dirigenten selbst. Er ist im Hauptberuf Musikalienhändler, mischt live Bands mit eigener Soundanlage und ist somit prädestiniert auch neueste Medien in die häufig „verkrustete“ Chorarbeit sinnvoll zu integrieren. Nach der Liedkantate geht es sofort weiter mit „Hungriges Herz“ von Scala & Kolacny Brothers. Imponierend, wie hier Kirche und Welt unaufgeregt nebeneinanderstehen. Den Chormitgliedern macht es sichtlich Spaß. Obligatorisch wird dann natürlich noch ein Geburtstagsständchen gesungen und es bleibt auch hier noch Zeit für die Gratulation aller Chormitglieder per Handschlag. Der Vorsitzende erklärt die nächsten Auftrittstermine. Der als Verein organisierte Chor finanziert sich übrigens ohne kirchliche Zuschüsse absolut selbst. Dafür werden jährlich zwei Karnevalssitzungen (2 mal 500 Gäste) und diverse Konzerte durchgeführt. Gesungen wird zur Hälfte bei kirchlichen und zur anderen Hälfte bei weltlichen Anlässen. Solch ein Kirchen/Chor könnte meines Erachtens, auch für andere Gemeinden modellhaft sein. Geprobt wird übrigens nicht im Pfarrsaal, sondern in einem Gasthaus gegenüber der Kirche. Kirche und Welt, nur durch eine Straße getrennt, und der Weg zueinander und dann miteinander ist gar nicht so weit. 

 

13. Empathie

Gerade wollte ich, nach einer sehr interessanten Probe, in mein Auto steigen, da fingen mich zwei etwa achtzigjährige, gut gekleidete Damen auf dem Parkplatz neben der Kirche noch ab und meinten, sie wollten bzw. müssten mir für meinen Hochschulunterricht noch unbedingt etwas sehr Wichtiges sagen. Natürlich spitzte ich sofort die Ohren und war gespannt, was denn da nun alles kommen würde. Zuerst erklärten sie mir, dass sie selbst schon seit mehr als fünfzig Jahren in verschiedensten Kirchenchören singen. Viele (sicher meinten sie Chorleiter) hätten sie schon kommen und gehen gesehen. Ihrer Meinung nach hätten aber nur diejenigen ihre Arbeit gut gemacht, die auch achtsam mit ihren Sängerinnen und Sängern umgegangen seien. Chorleiter sollten verstehen, dass häufig viele Chormitglieder abgekämpft und müde zur Probe kämen, dass viele auch große Probleme des Alltags noch in der Probe mit sich herumtrügen. Ein Chorleiter muss dies bemerken, hierfür eine Ader haben, sonst wird er früher oder später scheitern. Nach diesen Kriterien sollten wir in Regensburg unbedingt bei der Auswahl unserer Studenten Ausschau halten. Eine der beiden Damen meinte noch: „Da gibt es doch auch einen modernen Begriff dafür. Ich glaube mich erinnern zu können. Er heißt Empathie“. Ich führte mit den netten Damen das Gespräch bis zur Verabschiedung noch einige Minuten weiter und versicherte ihnen, dass ich ihren Ratschlag sehr gerne befolgen würde. Empathie wird meist mit Einfühlungsvermögen übersetzt. Einfühlungsvermögen oder auch Achtsamkeit auf Dritte. Empathie beschreibt also die Fähigkeit, Gedanken, Motive und Emotionen anderer Personen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Genau diese Begabung glaubte ich in der heutigen Probe wahrgenommen zu haben. Der Chorleiter (übrigens ohne Bachelor oder Masterabschluss) hörte sehr gut zu, berichtigte mit treffenden kleinen Korrekturen, lobte auch häufig trotz hörbarer Defizite und blieb dabei immer geduldig. Die Literatur, welche an diesem Abend gesungen wurde, war technisch nicht sehr anspruchsvoll, gleichzeitig aber sehr gut geeignet, jeden zu motivieren auch am späten Abend noch sein Bestes zu geben. Ich danke den beiden Damen und bewundere sie für ihren Mut, mich, „den Professor aus Regensburg“, anzusprechen und wünsche mir für mich selbst auch solch ein verantwortungsvolles Engagement im Alter.

 

14. Der Pädagoge 

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich durfte heute wieder einmal einen Chorleiter erleben, der „All-in-One“, also…alle notwendigen Fähigkeiten, welche einen guten Chorleiter auszeichnen, in sich vereinte. Das Einsingen wurde sehr kompetent und mit großer Ruhe, mit besonderem Augenmerk auf gleichmäßigen Atemfluss und entspannte Körperweite ausgeführt. Mir schien es fast so, als ob gerade die vielen älteren Chormitglieder daraus besonders großen Nutzen zogen. Auf jeden Fall waren sie mit sichtbar großem Engagement und den Anweisungen des Chorleiters aufmerksam folgend bei der Sache. In unserem häufig hektischen und von Stress geprägten Alltag sind gerade Entspannungs- und Atemübungen für viele Menschen „Balsam“ für das seelische und körperliche Wohlbefinden. Wir sollten diesen Übungen deshalb in jeder Probe gebührend Platz einräumen. 

Neben den schon angesprochenen Fähigkeiten war die Probe auch von starken pädagogischen Aspekten geprägt. Der Chorleiter streute, um aktuell auftretende Probleme zu lösen, immer wieder leicht verständliche Übungen ein, er ließ Rhythmen klatschen, beschäftigte unbeteiligte Stimmen mit kleinen kognitiven Aufgaben oder erschloss Aspekte der gesungenen Musik durch Bilder oder vielfältige Texterläuterungen. Auch transponierte er, um die Sopranistinnen nicht zu überanstrengen, den vollständigen Klavierpart mal schnell um einen Ganzton oder auch eine große Terz nach unten. Natürlich hatte er auch seinen Orgel- und Klavierschülern die Mitwirkung im Kirchenchor nahegelegt. Sie sind dem Chor trotz des jugendlichen Alters und der geringeren Chorerfahrung stimmlich eine große Stütze. Der Chorleiter wollte am Ende der Probe wissen, wer das Konzert der „weltberühmten Singphoniker“ am Sonntag besucht habe. Dabei bestand er auf Meldung per Handzeichen und bat alle Chormitglieder eindringlich zur eigenen musikalischen Weiterbildung die angebotenen Konzerte doch unbedingt zu besuchen. Dies würde ihren musikalischen Horizont sehr erweitern.  Im Anschluss an die Probe bestätigte mir der Chorleiter meinen Eindruck, dass hier sehr stark unter pädagogischen Aspekten geprobt wird. Der Chorleiter meinte dazu: „Je mehr meiner Sängerinnen und Sänger prinzipiell von Gesang, Notation, Harmonik und all den anderen Sachen, welche ebenso noch dazu gehören, verstehen, umso leichter ist meine Arbeit in der Zukunft. Mein Engagement als Leiter des Chores ist hier also unbedingt langfristig angelegt.“ 

 

15. In euer Herz hinein….!

“Wenn wir das richtig singen sollen, dann müsst ihr eure SEELE sprechen lassen, …..denkt an eure KINDHEIT, ….habt ihr da keine BILDER? ……macht nur MUSIK, für alles andere habt ihr den Verstand, ……WIR müssen das alle selber spüren, ……es muss in euer HERZ  hinein“. Das war die eine Seite dessen, wie der Chorleiter den Sängerinnen und Sängern die Musik ins Herz legte. Die andere ist seine immense Musikalität, eine von mir noch nie gehörte Sensibilität in der Art, wie Melodien harmonisiert und die singende Stimme jeweils unterschiedlich und einfühlsam begleitet wird. Man muss es gehört haben. Ich selbst kann das Erlebte nicht in Worte fassen. Der Chorleiter ist, so war jedenfalls mein Eindruck, auf allen Gebieten kompetent. Er wurde in Kasachstan geboren und hat dort eine strenge und intensive musikalische Ausbildung als Geiger erfahren. Später lernte er noch Klavier, Orgel und als zusätzliches Hauptfach Gesang. Chorleitung sagte er, habe er leider nie studiert. Die Hauptsache wäre jedoch, „man fühle die Musik“. Er schreibt seit Jahren eigens für seinen Chor zu den verschiedensten Anlässen passende und immer ans Herz gehende Chorsätze. Sein Originalton: „Es gibt für meinen Chor nichts von der Stange“. Kompositionen werden auf den Anlass hin, wie beispielsweise für das jährlich stattfindende Weihnachtskonzert, geschneidert. Regelmäßig besuchen dieses Konzert übrigens 1500 Besucher. Es werden nach dem Konzert für die Linderung der Not in Kasachstan, der Heimat des Chorleiters, Spenden gesammelt. Kasachstan ist ein Land, wo einst 450 Atombomben explodierten und, wie der Chorleiter mir sagte, die Kinder in dritter und vierter Generation oftmals ohne Arme oder Beine geboren werden. Wenn man davon hört, drängen sich jedem Menschen genügend Bilder auf. Diese Ebene der Emotion war bei allen Chorwerken, welche am Abend geprobt wurden, existent. Ein tiefes Erlebnis. 

 

P.S. Mir als Probengast wurde sogar noch ein eigenes Ständchen, welches ich im Sessel vor dem Chor sitzend anhören durfte, dargebracht. Eine moderne „Vater unser“ Komposition. Ich war gerührt.

 

16. Jung und ohne Zynismus 

Heute gab es eine junge, engagierte Chorleiterin zu hören oder sollte ich eher sagen zu bestaunen? Sie hat ihr Handwerkszeug in der „Bach-Stadt“ Leipzig erhalten und möglicherweise gerade deshalb eine besondere Vorliebe für helle „i“ und „e“ Farben. „Ich möchte hier ein langes, schmales „i“, oder „heller durch mehr Vordersitz“, oder „enger beim Vokal“. Die Ansagen und vor allem die Ergebnisse haben mich als Chorleiter, der es primär mit sogenannten „Oberpfälzern“ zu tun hat, doch sehr überrascht.  Man hört in Bayern eher dunkle, runde, offene, mit einer lang nach unten gezogener Mundöffnung gebildete Vokale. Nun ja, auf jeden Fall war das Ergebnis erfrischend klar und unmittelbar ansprechend. 

Eine Besonderheit gerade junger Chorleiter/innen konnte ich in dieser Probe auch wieder einmal bemerken: Junge Chorleiter/innen haben oft noch keine fertigen Lösungen parat, sie suchen manchmal gemeinsam mit den Chormitgliedern nach Lösungen aktuell auftretender Probleme. „Weshalb tut ihr euch an dieser Stelle so schwer? Weshalb wird der Text hier falsch unterlegt usw.?“ Man sucht gemeinsam, aber man findet auch gemeinsam Lösungen und dies führt zu einem wachsenden Vertrauen zwischen beiden Seiten, Chor und Leitung. Auf jeden Fall fand ich es heute wieder schön, von Seiten der Chorleitung her, die ganze Probe über keinen Zynismus zu hören. Der Satz: „Weil es so schön war, machen wir es gleich noch mal“ wurde hier, ohne „Hintergedanken“ formuliert, eine motivierende und im Allgemeinen freundlich aufgenommene Aussage. SINGEN MACHT ja eigentlich auch SPASS.

 

17. Ein Mensch 

Aufgehoben wie in einer Familie, ja so fühlt man sich hier. Der Chorleiter achtet verantwortungsvoll auf das Wohlergehen seiner sieben Chorgruppen. Er ist der Erste, der kommt, und der Letzte, der geht. Er kennt jede und jeden mit Namen und ist stolz auf seine „Kinder“. Aus einer wenig funktionierenden Chormusik hat er vor Jahren begonnen eine komplexe Organisation zu schaffen, welche in sich greifend und konsekutiv das Ziel hat, die Kirchenmusik in der Gemeinde auf ein hohes bis höchstes musikalisches Niveau zu heben und letztendlich die Gemeinde in ihrem Glauben dadurch ungemein zu bereichern. Es beginnt im frühen Schulalter mit zwei Vorchören (A und B). Daraus erwachsend singt man im Kinderchor, Mädchenchor oder Jugendchor. Bei besonderer stimmlicher Begabung bietet die Struktur sogar die Chance auf höchstem Niveau bei den Chorknaben (natürlich singen hier auch Mädchen) mitzumachen. Die Jugendarbeit mündet dann als Erwachsener in der Chorgemeinschaft. Ein wunderbares Modell, welches hier vorbildhaft funktioniert. Natürlich braucht es dazu einen aufopferungsvoll arbeitenden Kirchenmusiker, der hier beispielsweise zwanzig Grundschulbesuche im Jahr zur Werbung um junge Stimmen wahrnimmt. Natürlich (und das sagt er mir sogar ohne Frustration) erhält er dafür keinerlei finanziellen Ausgleich der Kirchengemeinde. Ein weiteres Beispiel dieses uneigennützigen Engagements möchte ich noch anfügen: Auf eigene Kosten hat er für die Chorjugend einen Tischkicker, ein „Out Run“ Rennspiel und zwei Flipper (Roller Games, Corvette) im Keller des Pfarrheimes bereitgestellt. Natürlich (und auch das sagte er mir wieder mal ohne Frustration) zahlt er auch die jährlichen Wartungskosten aus der eigenen Tasche. Ja, ich durfte hier einen Chorleiter mit größtem Engagement für seine „Kinder“ erleben. Sehr beeindruckt hat mich noch die Antwort, die ein Chormitglied auf die Frage nach dem, was Ihren Chorleiter im Besonderen auszeichne, auf den Fragebogen schrieb. Dort stand schlicht zu lesen „EIN MENSCH“.

 

18. Wir können uns kaum noch retten 

„Es passt nicht mehr! Die Leute kommen nicht mehr in die Kirche oder auch zum Singen“. So oder ähnlich lautet häufig landauf und landab das Gejammer über den Mitgliederschwund bei Deutschlands Kirchenchören. Hier jedenfalls passt das Gejammer absolut nicht. Der Chorleiter, ein schnell sprechender, gut singender und perfekt begleitender, höchst engagierter Kirchenmusiker steht vor seinem hundert Chormitglieder zählenden Chor, schaut immer mal wieder ganz nach rechts und ganz nach links, um auch wirklich alle im Blick zu haben und trägt auf seinem Kopf, man lese und staune, ein Headset. Nicht um lauter als seine engagierten Chorsänger sprechen zu können, nein, lediglich um auch bis in die hinterste Reihe (hier waren es fünf) gut und in allen Nuancen seiner Ansagen gehört und verstanden zu werden. „Ja, es werden immer mehr“, sagt er mir im Anschluss an die gut zweistündige, durchaus anstrengende Beethoven Probe (Missa in C-Dur). Er könne sich vor neuen Chormitgliedern „kaum noch retten“ und will die „Alten“ ja, ob ihrer Verdienste um den Chor, auch auf keinen Fall wegschicken. Wie kommt das, dass im „Erwachsenenchor“ so viele nachrücken? Die Antwort ist einfach: Doch nur, weil im Nachwuchsbereich über Jahre hinweg hervorragende Arbeit geleistet wurde und wird. Der Kirchenmusiker gründete vor ca. dreißig Jahren auf Eigeninitiative eine „Chorschule“. Dort singen mittlerweile 150 Kinder, verteilt auf vier Chorgruppen. Sie werden neben dem Kirchenmusiker von zwei Stimmbildnern im Singen geschult. Zusätzlich bietet die „Chorschule“ noch die Möglichkeit des Singens in der Choralschola oder dem (jungen) Kammerchor. Bei solch idealen Verhältnissen verwundert es nicht, dass der Chor sich vor jungen engagierten Sängerinnen und Sängern (im positiven Sinne) „kaum retten“ kann. 

Und noch etwas gilt es unbedingt anzumerken: Konzerte zu singen ist hier keine Primärmotivation für das Singen im Chor. Die Gottesdienstgestaltung steht traditionell und auch heute noch an vorderster Stelle des Chorengagements. Ein Beispiel: Beethoven`s C-Dur Messe wird am 2. Weihnachtsfeiertag samt Solisten und großem Orchester der Beitrag des Chores zur Mitgestaltung des festlichen Gottesdienstes sein. Ein Chorsänger meinte dazu: „Das wird unser großes Geschenk für die Gottesdienstbesucher der Pfarrei und natürlich auch für uns selbst“. 

 

19. Begeisterung und Generationswechsel 

Es gibt sie auch in Deutschland. Landstriche, in denen die religiöse Zugehörigkeit mit Stolz und Selbstbewusstsein hochgehalten wird. Das Singen im Kirchenchor ist dort möglicherweise mehr Bekenntnis und Heimat als anderenorts. Gegen alle Widerstände wird hier bewusst im „katholischen deutschen Kirchenchor“ gesungen. Dieses Bewusste drückt sich auch dadurch aus, dass kräftiger als üblich und äußerst engagiert gesungen wird. Die Chorleiterin beförderte dies zudem mit häufigen Aufforderungen wie: „Hauptsache laut“ oder als die Chorsänger doch etwas verunsichert sind, weil der Chorsound stetig lauter und lauter wird, „keine Sorge das passt schon“. „Das hat ein Gloria halt so an sich, dass es laut wird“. Zusammengefasst darf ich sagen: Es herrscht eine große Begeisterung vor (man wird freundlichst von allen Chormitgliedern per Handschlag begrüßt), während und nach der Probe (regelmäßig sitzt man noch bei Bier und Wein zusammen). Natürlich gibt es auch hier offene Wünsche. Die finanzielle Situation des Chores ist beispielsweise sehr angespannt. Für Chorleiter oder Notenmaterial sind von pfarrlicher Seite aus keine Finanzmittel vorgesehen. Um kostenfrei etwas gegen die Kälte im Proberaum zu unternehmen stehen immer wieder Stimmgruppen zum Singen spontan und freiwillig auf. Interessant war die Antwort auf meine Frage, wieso der Chor doch über ein so bewundernswertes jugendliches Durchschnittsalter verfügt. Die Chorleiterin erklärte mir, dass vor einiger Zeit ein Chorleiterwechsel anstand. Im Zuge dieser Änderung in der Chorleitung verabschiedeten sich viele ältere Stimmen aus dem Chor. Der Platz war somit frei für neue, offene, junge Sängerinnen und Sänger. Man solle also auf keinen Fall Angst vor einem Generationenwechsel im Chor haben. Diesen weisen Ratschlag merke ich mir gerne. 

 

20 SC 

Heute gab es mal wieder den typischen Sängerchorleiter (SC) zu bestaunen. Ich schreibe dies hier auf keinen Fall despektierlich, sondern absolut wertschätzend. Was zeichnet einen SC denn eigentlich aus? Weshalb klingt der Chor bei ihm sehr schnell besser und weshalb macht es bei einem SC immer mehr Freude im Chor zu singen als bei den anderen „Typen“? Nun, er schafft (vorausgesetzt seine Stimme ist von wirklicher Schönheit) mit dem ersten gesungenen Ton eine neue Ebene der Musik. Der Alltag ist da schnell vergessen und man wird mitgenommen. Man möchte natürlich und sofort ebenso schön singen wie der Chorleiter. Man hat ein hörbares Ziel vor Ohren, zu dem man hin will, hin soll, hin darf. Der Weg dorthin wird dann mit Worten wie: „Super, jaaaa, genau, top, wunderbar“, manchmal sogar mit „geil wie ihr singt“, garniert, sodass das Singen natürlich jede und jeden im Chor begeistert. Kurz gesagt, es wird immer positiv formuliert. Üblicherweise und auch heute Abend fiel die ganze Probe über kein böses Wort. In solch einem Chor mitmachen zu dürfen kann dann wöchentlich Balsam für die strapazierte Seele sein. Da ein SC häufig an Einzelstimmen arbeitet, ist es für die Pausierenden auch leicht nachvollziehbar, dass sich etwas verbessert. Dies freut natürlich wiederum den ganzen Chor. Ich sollte der Information halber noch die anderen Chorleitertypen nennen. Da gäbe es den KC (Klavierchorleiter), den DC (Dirigierchorleiter), den IC (Intellektchorleiter), den MC (Musikalische Chorleiter) oder den AC (A Cappella Chorleiter). Es würde sicher zu weit führen, hier noch genauere Vergleiche untereinander anzustellen. Der SC der heutigen Probe zeigte mir jedenfalls anschaulich, dass es möglich ist, mit einer guten Stimme und lieben, aufmunternden Worten eine feine Chorprobe zu halten. Ich selbst bin ja sicher kein typischer SC und vieles, was einem fern liegt, sehnt man sich gerne herbei. Vielleicht dachte ich mir auch deshalb im Anschluss an die Probe: Wie toll wäre es doch, wenn wir Chorleiter nach Bedarf zwischen SC / KC / DC / MC / AC / IC switchen könnten? EIN TRAUM- EIN ZIEL!

 

21. Integration wagen

„Das passt so nicht. Die sollen doch unter sich bleiben. Denen müssen wir sicher alles wieder neu erklären. Sie nehmen uns den Platz weg.“ Genau so klang es im Wirtshaus nach der heutigen Hauptprobe vor dem Konzert. Zuerst dachte ich, es geht wie so oft leider mal wieder um die Flüchtlinge in unserem Land. Dem war aber nicht so. Es saßen dort einige Chormitglieder des kath. Kirchenchores zusammen. Gemeint hatten sie mit ihren provozierenden Äußerungen die Kinder und Jugendlichen der Pfarrei, welche beim anstehenden Konzert mitwirken dürfen. Aber von Anfang an. Ich erlebte an diesem Abend eine auf hohem Niveau stehende Hauptprobe für ein Konzert im Advent. Es sang der ortsansässige Kirchenchor gemeinsam mit einem Kinder-Jugendchor der Pfarrei und es spielte das „Hauseigene“ Kammerorchester. Der Chorleiter, ein studierter A-Kirchenmusiker versuchte in der Probe alle Gruppen zusammenzuführen, um musikalisch mit einer Stimme zu sprechen. Die Streicher sollten auf den Chor hören. Ebenso gelte das auch umgekehrt. Sie sollten auch alle möglichst eng zusammenrücken, damit für die hundertfünfzig Mitwirkenden (120 Chor / 30 Streicher) genügend Platz vorhanden ist. Erstmals durfte auch der Pfarreigene Kinder- und Jugendchor beim Konzert mitwirken. Die jungen, schlanken Stimmen mischten sich sehr fein mit den vielen älteren, oft auch kräftigen und tendenziell eher zum Vibrato hin, tendierenden Stimmen. Auf jeden Fall schafften die jungen Sänger die höchsten Töne problemlos und waren eine große Bereicherung für den etablierten Stammchor. Man sah den Kindern und Jugendlichen ihre Begeisterung regelrecht an. Sie strahlten beim Singen über das ganze Gesicht. Natürlich macht es ihnen auch Freude, im Konzert dann zudem noch beklatscht zu werden. Und es machte ihnen auch Freude, danach mit Worten wie „das hast Du aber toll gemacht“ wertgeschätzt zu werden. Gerade Kinder und Jugendliche sollten dies, wo immer und so oft es geht, erfahren. Dass wir Älteren unsere gewachsene Kultur durch solch ein „MITEINANDER“ auf angenehmste Weise an die nachkommenden Generationen weitergeben können, sollte uns höchst willkommen sein. Die Arbeit, wie sie hier vom überaus angenehmen probenden Chorleiter hervorragend und integrierend gepflegt wird, könnte ein Modell für die Zukunft vieler Kirchenchöre sein. Und nun zu meiner Antwort auf die oben beschriebenen Äußerungen: „Das passt so nicht!“ Ich sage: „Und es passt doch!“ „Die sollen doch unter sich bleiben!“ Ich meine: „Eben nicht!“ „Denen müssen wir sicher alles wieder neu erklären!“ „Dann macht es doch!“ „Sie nehmen uns den Platz weg!“ „Dann rückt doch enger zusammen (verdammt noch mal)!“ Lohnenswert, für alle in dieser Frage noch Ungläubigen, wäre auch ein Blick auf den Text aus dem Konzertprogramm über den Kirchenmusiker der Pfarrei. Hier ist zu lesen: „Bei seiner Arbeit mit den unterschiedlichsten Gruppierungen steht für ihn immer die Verkündigung im Vordergrund. Sein Anspruch – und somit auch der Anspruch aller Musizierenden – ist es, den Glauben durch gemeinsames Mittun zu erleben und für den Zuhörer „erlebbar“ zu machen.“

 

22. Je kleiner desto feiner 

Nachdem mir Deutschlands Kirchenmusikdirektoren auf meiner Suche nach einem „Vorzeigechor“ der eigenen Diözese meist große Oratorienchöre genannt hatten, schickte man mich heute zu einem kleinen, um die fünfundzwanzig Mitglieder zählenden Chor. Wieder mal durfte ich einen perfekt geschulten Chorleiter bewundern. Der Unterschied zu den Kollegen vorher war der, dass seine Ansagen hier prinzipiell besser und schneller umgesetzt wurden. In kleinen Chören sitzt man näher an den benachbarten Stimmen. Man hört die anderen Akkordtöne exakter und kann die eigenen Töne besser einfügen. Von großem Vorteil ist zudem, dass man die eigene Stimme besser wahrnimmt und den Klang je nach Bedarf unterschiedlich stark modulieren kann. Man fühlt sich, da man ja doch sehr nah vor dem Chorleiter sitzt, oder wie hier fast immer steht, unmittelbarer als in einem großen Chor angesprochen. Für die hohe Leistung des Chores tragen hier alle eine größere Verantwortung. Man ist immer ein gewichtiger Teil des Chores. Die Intonationskorrekturen waren allesamt spontan auf den Punkt gebracht und über die ganze Probe hin omnipräsent. Der Probenraum hatte eine, und dies bemerkte der Chorleiter mir gegenüber fast stolz, sehr „trockene“ Akustik. Dadurch würden ihm keine auch noch so kleine Ungenauigkeiten entgehen. Er könne dort einfach alles perfekt hören. Auch die Tempi wurden, je nach Vorliebe des Chorleiters, in höchst unterschiedlichster Weise gestaltet. Der kleine Chor war hörbar in allen relevanten Bereichen flexibel und das klangliche Ergebnis auch über Diözesangrenzen hinaus absolut vorzeigbar. Treffen deshalb die Worte „JE KLEINER, DESTO FEINER.“ Ich würde sagen: JA. Verschweigen möchte ich natürlich nicht, dass der Spaßfaktor beim Proben deutlich geringer ist, oder sollte ich besser sagen: Der Spaßfaktor liegt bei diesen Chören einfach in anderen Bereichen, auf anderen Ebenen als bei großen Chören. Man hat hier an möglichst perfekt und stilsicher dargebotener Musik seine Freude, seinen Spaß. Etwas überspitzt formuliert könnte man sagen: Hier ist die Probe Arbeit. Der Spaß beginnt danach. 

 

23. Generationsübergreifend 

Sehr gespannt besuchte ich am Samstag (10.00-11.30 Uhr) die Hauptprobe eines generationsübergreifenden Kinder-Jugend-Erwachsenenchores. Zudem ist der Chor noch gemeindeübergreifend (drei Pfarreien) aufgestellt. Man ahnt es schon. Hier muss der Chorleiter Multitasking begabt sein. Übrigens gelten diesbezüglich Frauen als begabter, und so war es hier auch eine Chorleiterin, welche „die Zügel in der Hand“ hielt. Als sehr schnell sprechende, hochdeutsch artikulierende und mit ihrer Singstimme bis in die letzten Ecken der Kirche immer gut zu hörende Chorleiterin war es ihr ein Leichtes, möglichst alle 40 Chormitgliedern mit Ansagen und Anweisungen zu informieren und musikalisch zu fesseln. Irgendwie lief ihr niemand aus der Reihe. Sie hatte bei Zwischenfragen sofort eine Antwort parat. Um Geschwätz im Chor zu vermeiden, ließ sie ihre Anweisungen auch jeweils in den Schlussakkorden der gesungenen Chorsätze beginnen. Sie eröffnete das Einsingen mit allen Stimmen. Dann schickte sie die Männer zur Einzelstimmprobe, vorerst mal für dreißig Minuten, in den Pfarrsaal. Anschließend sangen Kinder, Jugendliche und Frauen in den Bänken, danach auf den Altarstufen, dann wiederum sangen nur die Kinder vor dem Altar, die Frauen hörten zu. Danach wurde wieder gewechselt und die Kinder hörten zu. Dann kamen die Männer wieder zurück und sollten aus der ersten Bankreihe singen, die Kinder verteilt in der Kirche und die Frauen von den Altarstufen. Es wurden in 75 Minuten ca. acht Motetten, mehrere Kanons und einige Liedsätze aus vier verschiedenen Chorbüchern gesungen und zwischendurch diverse Ansagen zu demnächst anstehenden Terminen gemacht. Auch prinzipielle Probleme der Probenorganisation bzw. Durchführung wurden angesprochen und auf Lösungsmöglichkeiten hin abgeklopft. Die Probe war für mich sehr aufregend und schnell. Hätte ich meine blutdrucksenkenden Tabletten greifbar gehabt, wäre hier eine Einnahme sicherlich zielführend gewesen. Aber Spaß beiseite. Musiziert hat hier ein modellhafter Dreigenerationenchor. Vor Jahren aus mehreren Mutter-Kind-Gruppen erwachsen, sind es nun auch Jugendliche, die gerne mit ihren Eltern im Chor singen. Das Miteinander und gegenseitige Wertschätzen ist hier das Besondere. Die Kinder singen, die Eltern hören zu und sind stolz auf ihren Nachwuchs. Die Eltern singen und die Kinder dürfen zuhören und werden in ihren Wahrnehmungen ernstgenommen. Die Proben wurden eigens auch auf den Samstagvormittag gelegt, damit auch berufstätige Väter mit ihren Kindern oder Jugendlichen zum gemeinsamen Singen kommen können. Die Mitglieder stammen aus drei Pfarreien und es ist sicherlich nicht einfach, hier Termine, Probenorte, Finanzierungen und vieles mehr unter „einen Hut“ zu bringen. Die Chorleiterin meinte auf diese Frage hin: „Nicht jammern, nach Lösungen suchen und dann einfach mal MACHEN.“ Großes Kompliment für das, was hier passiert.

 

24. Abendgebet als Abschluss

Heute Abend durfte ich eine, in vielerlei Hinsicht, beeindruckende Probe erleben. Nachdem der Pfarrsaal wegen einer Krippenausstellung für die Chorprobe nicht zur Verfügung stand, musste in die Aussegnungshalle auf den Friedhof ausgewichen werden. Der Weg dorthin war in der Dunkelheit zwar von hunderten Gräbern strukturiert, die vielen kleinen Lichter konnten mir jedoch, rein sturztechnisch, keine übermäßige Hilfe bieten. In der Aussegnungshalle angekommen, wurde meine Vorahnung Gewissheit: Es gibt hier keine Heizung! Freundlich und warm eingepackt, begrüßte mich die Chorleiterin. Sie ist seit Geburt blind. Ihren Dienst als Kirchenmusikerin verrichtet sie schon seit Jahrzehnten zu großer Zufriedenheit aller. Ich darf an dieser Stelle feststellen, dass ich die Blindheit der Chorleiterin in ihrer heutigen Chorprobenarbeit zu keiner Minute als Einschränkung empfand. Sie verteilte Noten, suchte in einer Kiste am Hintereingang der Friedhofshalle nach restlichen Bleistiften, hat alle Einzelstimmen perfekt parat und singt, je nach Bedarf, in höchster oder tiefster Lage alles Notwendige vor. Eine Gemeinsamkeit meiner Studie kann ich an dieser Stelle bereits verraten. Alle Chorleiter und Chorleiterinnen verfügten, wie auch hier, über sehr gut funktionierende und klangschöne Stimmen. Die Chorleiterin hört zudem „absolut“ und konnte deshalb auch sehr stringent proben. Sie war durch kein lästiges Tonangeben auf dem Instrument, welches hier in der Aussegnungshalle nicht vorhanden war, aufgehalten. Schnell zu proben war ihr heute, da in den nächsten Wochen viele Auftritte anstehen, sehr wichtig. Neben der „Messe brève“ op. 7 von Charles Gounod wurden noch folgende Liedmotetten geübt: Kündet allen in der Not / Es kommt ein Schiff geladen / Die Nacht ist vorgedrungen / Tauet Himmel den Gerechten / Der Morgenstern ist aufgedrungen / Mariä durch ein Dornwald ging / Tochter Zion / Es ist ein Ros entsprungen / Zu Bethlehem geboren. Bei dieser langen Literaturliste war für ein Einsingen zu Beginn der Probe natürlich kein Platz. Andererseits: Nicht verzichtet wurde aber auf das traditionelle Abendgebet, welches immer alle Proben beschließt. Die Fürbitten trägt die Chorleiterin dabei immer selbst vor. Man betet hier etwa nicht um eine bessere Intonation oder einen regelmäßigeren Probenbesuch. Nein, es geht um Wichtigeres. Heute betete man um den Erhalt des kath. Glaubens in der Region, um Frieden in der Welt und um das Zustandekommen einer baldigen Regierung in Berlin sowie abschließend um göttlichen Schutz für den Nachhauseweg. Bei dem, was ich in der heutigen Probe alles erleben durfte, bereitete mir nun der Heimweg über Friedhof und Dunkelheit deutlich weniger Sorgen als zuvor. 

 

 

Inhaltsverzeichnis

…..und all dies ist kostenlos! (1)

Chorleiter oder Dirigent (2)

Der Alleinunterhalter (3)

Erntedank (4)

Non confundar (5)

Die gute Intonation (6)

Primus inter Pares (7)

WO (8)

Ehrfürchtig (9)

Zukunftsmodell (10)

Im Studium gelernt (11)

Kirche und Welt (12)

Empathie (13)

Der Pädagoge (14)

In euer Herz hinein ....! (15)

Jung und ohne Zynismus (16)

Ein Mensch (17)

Wir können uns kaum noch retten (18)

Begeisterung und Generationswechsel (19)

SC (20)

Integration wagen (21)

Je kleiner desto feiner (22)

Generationsübergreifend (23)

Abendgebet als Abschluss (24)




- „Ich verstehe nicht, warum Menschen Angst vor neuen Ideen haben, ich habe Angst vor alten“ John Cage (1912-1992) - "Kunst muss aus der Seele geboren werden" (Harald Feller). - "Es genügt nicht, dass man Musik nur hören kann. Man muss Musik auch sehen können" (Igor Strawinsky). Auf der Erde fehlen Menschen, die mehr arbeiten und weniger kritisieren, die lieber aufbauen als  zerstören, die weniger versprechen, aber dafür mehr einlösen, die weniger nehmen als sie  geben, die lieber „heute“ sagen als „morgen“ (Che Guevara).